TEIL 1 Herr Deutschlehrer:
„Also diese Schülerin mit Migrationshintergrund…“
Der kluge Kalender zeigte zum zehnten Mal den ersten Schultag an. Das nervige Namensschild lag wie die letzten zehn Jahre zuvor auf der ersten Tischreihe. Auf dem linierten Heft stand aber nun ‚Klasse: 10‘ –eine runde ganzrationale Zahl.Die zehn Schuljahre verliefen auch recht rund und vergingen bisher auch ganz vernünftig. Dann zeigte der schlaue Stundenplan einen neuen Deutschlehrer an. Von großer Statur und festem Rückgrat stand er nun vor dem Pult. Das weiche weiße Haar kontrastierte zum starken schwarzen Brillenrand über der Hakennase. Nein, liebe Leser, Deutsch auf Lehramt hat Herr Sarrazin nie studiert!
Während seine Adleraugen mein Namensschild musterten: „Solche Namen kann ich mir viel schneller einprägen als Heinrich oder Ludwig! Ich habe lange Jahre in Schulen gearbeitet mit einer enormen Anzahl von Schülern und Schülerinnen mit Migrationshintergrund. Ja, diese Begrifflichkeit wird im heutigen Sprachkanon für Schülerinnen wie dich verwendet.“
Damals war zwar noch kein Leistungskurs Biologie im Stundenplan vermerkt, doch die gerichteten Selektionsfragen blieben dem Biotop Klassenraum nicht lange fern: „Ich kann allein aus meiner Erfahrung nicht mehr die Frage stellen, woher du kommst. Ich käme von Zuhause, würde mir darauf geantwortet werden (kichern und lachen in den hinteren Reihen). Heutzutage muss die Frage auch anders formuliert werden (Seufzer). Welchen Migrationshintergrund hast du?“
Rote Haare hatte ich nicht. Jedoch zwei Muttermale im Gesicht. Eine Inquisition also?
Schutze suchend und verwirrt, verwinkelte ich mich zu meiner Freundin, einer Trägerin polnischen Erbgutes. Sie konnte mir keinen Schutz gewähren. Herr Deutschlehrer interpretierte meine Körpersprache: „Woher stammen deine Eltern?“
Im Brennpunkt einer Tragikomödie mochte ich nicht sitzen, obwohl ich vom Feuerzeichen Löwe bin. Erleichtert über die Übersetzung der Frage in Sekundarstufe-1-Deutsch ließ ich sein Trommelfell nicht noch länger auf meine Schallwellen warten.
Auch ließ die erste Klassenarbeit nicht lange auf sich warten. Herr Lehrer überreichte mir meine ausreichende Darbietung. Das Taschentuch meiner Freundin konnte meine Tränendrüsen nicht drosseln, sodass Herr Lehrer den Dialog mit ihr aufsuchte: „Nein, ich weiß nicht, was mit Zeinab ist! Aber ich kenne sie schon seit der fünften Klasse. Was ich weiß ist nur, dass sie nicht mal eine ‚befriedigend‘ mag!“ (Und dies gewiss nur aufgrund der vielen Silben in der Aussprache). Der erleuchtete Lehrer: „Oh, ich dachte, für sie (akzentuierter) ist das eine gute Note! (Pause) Und durchs Weinen ändert sich auch nichts daran.“
Ich hätte meinem Deutschlehrer sehr gerne für seine tröstenden Worte gedankt.
Nur sahen ihn meine Augen leider nicht und es ist doch äußerst unhöflich, während einer Danksagung keinen Blickkontakt zu halten. An dieser Stelle sei mein stetiger Sarkasmus auf den Standby-Modus gesetzt, denn dem Herrn Lehrer bin ich wahrlich dankbar.
Dankbar bin ich für seine ‚Hammerworte‘, die den Amboss in meinem Ohr schlugen und dankbar für jene ‚Zündworte‘, die meine Aorta entflammten.
Liebe Leser, seid nicht um die Kolumnistin besorgt. Sie erlitt weder einen Infarkt, noch wurde sie taub. Doch bemitleidet meinen Herrn Deutschlehrer!
Liebe Leser, bemitleidet meinen Deutschlehrer, dessen Ohren nach Franz Kafkas Parabelanalysen vom schweren Schall taube wurden!
Liebe Leser, bemitleidet auch noch jenen Lehrer, dessen Hochdruck nach Bertold Brechts Gedichtanalyse nicht mehr mit Aspirin therapierbar war!
Liebgewonnene Leser, bitte beweint nun seine elende Exklamation: „Also diese Schülerin mit Migrationshintergrund (er geriet ins Stocken). So etwas habe ich bisher in meiner Amtszeit als Deutschlehrer noch nie gehört. Ich frage mich (konzentrierter, starrer Blick), woher sie das denn bloß hat!“
(Im Sinne von: Mein Erzeuger besitzt doch kein Gartenhaus in Weimar und meine Erzeugerin heißt doch auch nicht Charlotte. Als Evidenz: Goethe hatte keine Töchter)
„Lieber Herr Deutschlehrer, das habe ich von Ihnen.“ Das sagte ich ihm noch während ich mein liniertes Heft zart zuschlug und die geschwächte Stützfalte meines nervigen Namensschildes mit beiden Händen nachzog.