DIALOG.FÖRDERUNG.PARTIZIPATION.

„Im Anfang war das Wort…“

Jasmin Mazraani

Dieser aus der Bibel stammende Vers (Johannes 1,1) beschreibt im Allgemeinen den Anfang der Schöpfung Gottes. Also den Anfang von etwas Zukünftigem, einer Sache, die geschaffen und somit kommen wird. Demnach hat alles seinen Anfang in einem Wort, das eine Idee beschreibt. Wenn auch wir unsere Gedanken in Worte fassen wollen, dann wollen wir etwas verkünden. Das Sprechen ist also ein Schöpfungsakt. Wir können mit einem Wort etwas Großes erschaffen.

Auch die Soziologie kennt diese Art der Genese, denn wir erschaffen uns eine Realität, die sogenannte soziale Wirklichkeit, die bisweilen sich massiv von der objektiven Wirklichkeit unterscheiden kann. Wir geben unserer Welt, den Dingen in ihr, den Menschen bestimmte Bedeutungen, wir verleihen bestimmtem Handeln Sinn, und beschreiben somit soziales Verhalten, und das unterscheidet sich von Kultur zu Kultur. Die Sprache, womit ein Wort ausgedrückt wird, ist maßgebliches Instrument, unsere soziale Wirklichkeit zu schaffen. Wir gaben den Baum den Namen Baum, dem Vogel den Namen Vogel, der liebevollen Frau, die uns auch bei allem Ungehorsam liebt, den Namen Mutter, Angela Merkel den Namen Bundeskanzlerin usw.  Und mit dieser Namensgebung handeln wir in unseren sozialen Beziehungen, darauf haben wir uns indirekt geeinigt und messen unser Handeln, Verhalten und unsere Gedanken daran. Die Worte „Ich liebe dich“ erfreuen uns und versetzen unser Inneres in einen überwältigen Gefühlszustand. Diesen Worten folgen Taten, und diese Taten sind weitreichend und von fundamentalem Charakter, besonders weil sie aus starken Emotionen und Ideen entstanden sind. Wir können durch einfache Worte die Welt so dermaßen verändern, dass sie weitreichende, schöpferische Taten begeht und einen überwältigenden Gefühlszustand spürt. Jeder Prophet, charismatische Herrscher, Anführer einer kleinen Gruppe hat das vollbracht, Prophet Moses, Jesus, Muhammad, Martin Luther King, die Geschwister Scholl, Nelson Mandela usw.

Wenn wir also bestimmten Dingen einen realen Charakter zusprechen und es daher als real begreifen, so hat es auch reale Konsequenzen für uns. Das ist eine selbsterfüllende Prophezeiung, wie der amerikanische Soziologe Robert Merton es nennt. Wir geben etwas eine Bedeutung und dieses Etwas nehmen wir dann als solches wahr, wir werden es so kennen und behandeln es auch so.  Und angenommen wir nennen eine Bevölkerungsgruppe einfach mal „die Kriminellen“ und wir behandeln sie daraufhin als Kriminelle, sodass fast jede ihrer Taten ein Akt der Kriminalität darstellt. Ihr Handeln legen wir auf die Goldwaage, und wir verurteilen sie dafür, dass sie so handeln. So haben wir einen Wortschöpfungsakt begangen, dem fundamentale Taten folgen und einen überwältigenden Gefühlszustand erregen, und die die einen Menschen zu Hassenden und die anderen zu Opfern macht. Dies beobachten wir die Menschheitsgeschichte hindurch, und die Zivilisation und unser Informationsreichtum haben diesen menschlichen Schöpfungsakt nicht gestoppt, sie begünstigen ihn gerade zu. Diese selbsterfüllenden Prophezeiungen können daher durch Worte der Verleumdung, der Vorurteile und Erniedrigung geschehen. Und diese Worte des Hasses sprechen Menschen aus bestimmten Gründen. Immer mehr heben wir in einen Zustand der Schwebe ab, wo wir keine Orientierung haben, wo wir uns eigentlich nicht mal selbst kennen. Leo Strauss, ein politischer Philosoph der Moderne, wirft dem heutigen Menschen vor, nicht zu wissen, was er will und dass er nicht mehr daran glaubt, zu wissen, was gut und was böse sei. Diese Orientierungslosigkeit bestärkt unser Bedürfnis nach Identität und Stärke. Und seitjeher musste dafür ein Sündenbock herhalten, mit dem wir unsere Identitätslosigkeit, Hilfslosigkeit, Angst und Schwäche kompensieren, indem wir ihn als schlecht, gefährlich, rückständig, nieder und feindselig beschreiben. Und dabei ist es unerheblich, ob der Sündenbock wirklich diese schlechten Eigenschaften aufweist, für die eigene Identität ist er notwendig, deswegen kann man Vorurteile auch nicht mit Wissen bekämpfen, denn es handelt sich bei Vorurteilen „um einen hartnäckigen und emotionsgeladenen Widerwillen dagegen, widersprechende oder relativierende Informationen gelten zu lassen,“ so der österreichische Psychologe Josef Berghold (Berghold 2007 ‚Feindbild und Verständigung‘ S. 153).

Jacques Sémelin, ein französischer Historiker, beschrieb es ebenfalls treffend: „Angst, Misstrauen und Ressentiments zu schüren und dadurch Argwohn, Selbstherrlichkeit und Rachsucht zu provozieren“ (Sémelin 2007 ‚Säubern und Vernichten‘ S. 87). Der Mensch nutzt die Worte der Beleidigung, um seine eigene Unterlegenheit zu überdecken. Die Menschen werden oft von Beweggründen getrieben, die sie vor sich selbst verbergen, wie Sigmund Freud sinngemäß beschreibt. So kauft man sich nicht einen Mercedes, weil man von der Technik des Autos überzeugt ist, sondern um das Bedürfnis nach Prestige und Status zu kompensieren.

Und das passiert, wenn der Mensch andere beleidigen und mit bösen Eigenschaften bestücken muss, um seine eigene Schwäche zu kompensieren und sich zu finden. Wenn wir also Menschen bestimmte Namen geben, so schaffen wir eine soziale Realität, die viele Menschen als wahr annehmen. Es kann mit einer verächtlichen Gesinnung fürchterlichste Ausmaße annehmen, wie den Holocaust, aber mit der richtigen und weisen Gesinnung befreiende und beste Ausmaße, wie die Befreiung der Kinder Israels vor dem Pharao. Ein Wort, mit dem man die besten Ausmaße gut erreichen kann, ist

Friede!“ – ein Wort eines barmherzigen Herrn.“ (Quran Sure 36 Vers 58)

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