Berlin. Wir schreiben das Jahr 2014. 69 Jahre sind seit dem offiziellen „Ende“ des durch Deutschland entfachten zweiten Weltkrieges vergangen, in dem 50 Millionen Menschen starben und der Faschismus eine neue Stufe erreichte; eine Stufe, die es erlaubte, Massen – sehr große Massen – insofern zu hypnotisieren, dass diese den systematischen Mord an Millionen von Menschen als legal einstufen, etwa weil diese der falschen Ethnie, dem falschen Glauben, oder dem falschen Körper angehörten. Allen voran Juden, aber auch Roma und Sinti waren von der sogenannten ethnischen Säuberung betroffen. Zwei Dinge an diesem Krieg sind besonders tragisch: Dass Menschen aufgrund dessen, was sie sind, millionenfach getötet wurden und dass dieser Krieg immer noch stattfindet.
In den vergangenen September- und Augustwochen ereigneten sich in Deutschland landesweit zahlreiche Angriffe auf Synagogen und Flüchtlingsunterkünfte (u.a. Roma und Sinti). Vor noch wenigen Jahren wurde sogar eine junge jüdische Frau aus antisemitischen Motiven innerhalb eines deutschen Gerichtssaals erstochen. Doch ist erstmal Wahlzeit, sieht man die durchgestrichenen Synagogen an den Laternen hängen, mit denen deutsche Parteien für ihren Wahlkampf werben… So macht Demokratie Spaß.
Jetzt im Ernst. Dir ist ein „Fehler“ im Text aufgefallen und ich gebe zu, der war beabsichtigt. Die Moscheen habe ich mit Synagogen ersetzt und die Schwester Marwa El-Sherbini mit einer beliebigen Jüdin. Aber ich garantiere, das war der einzige „Fehler“. Leider. Denn der Part mit den Flüchtlingen stimmt.
Dieses Rollenspiel hatte einen Zweck. Erstens war das im Prinzip kein wirklicher Fehler, denn der Angriff auf einen Juden ist auch ein Angriff auf einen Muslim. Beide Angriffe sind genau gleich falsch. Ob da nun Moschee, Kirche oder Synagoge steht, macht keinen Unterschied und dennoch würden diese Szenarien jeweils verschieden bewertet werden, traurig. Man tötet keinen einfach aufgrund seiner Religion. Nein! Man tötet keinen und Punkt.
Das Zweite ist, und das ist das Traurigere: Dein Verstand lässt zwar in dir das Gefühl der Unmöglichkeit aufkommen, wenn du liest, dass deutsche Parteien Synagogen durchstreichen und Synagogen tatsächlich angegriffen werden, während Angriffe auf Moscheen, islamische Symbole und muslimische Frauen Alltag sind. Wieso ist nicht beides gleich unmöglich? Muss ich erst dann lieb zu jemandem sein, nachdem ich böse zu ihm war? Weil noch keine 6 Millionen Muslime getötet wurden.
…Dachte ich immer. Aber die wurden schon längst getötet (Algerienkrieg, Irakkrieg usw…). Bis ich im Rahmen des erneuten Gazakrieges zu spüren bekam, auf welcher Weise die deutsche Regierung, die ja die erste Instanz ist, die an die Holocaust-Erbsünde glaubt, sich von seinen Sünden rein zu waschen erhofft: Durch Waffenexporte in Kriegsgebiete und prinzipieller Pro-Israel-Haltung – auch wenn diese Unterstützung ein paar Tausend tote Kinder als Kollateralschaden mit sich ziehen sollte. Passiert mal. (Mehr zum Thema Pro-Israel-Haltung: http://mahdi-ev.de/wie-geht-man-als-deutscher-mit-dem-nahostkonflikt-um/ )
Während also die deutsche Öffentlichkeit eine prinzipielle Pro-Israel-Haltung als Wiedergutmachung für die Zeiten vorschlägt, in denen Synagogen hierzulande niedergebrannt wurden, will sie ignorieren, dass heute jeden Tag eine Moschee niedergebrannt wird. Das sind die faulen Früchte, die der falsche Baum namens „Wiedergutmachung“ trägt, dessen Züchter davon ausgehen, dass die Wiedergutmachung des zweiten Weltkrieges nur die jüdische Gemeinde beinhaltet: Das Thema Wiedergutmachung äußert sich nur in Nahostkriegen und Bewaffnungen, während er die omnipräsenten Defizite des deutschen Alltags überfliegt, was besonders Flüchtlinge angeht.
Doch kommen wir zu etwas Anderem. Lieber Deutscher, oder jener, der sehr gut darin ist, sich ständig zu seiner deutschen Schuld am zweiten Weltkrieg zu bekennen und weniger gut darin ist, seine Lehren aus dem Weltkrieg tatsächlich umzusetzen: Jetzt hast du die Chance, endlich zu zeigen, dass du aus der Geschichte gelernt hast, indem du bitte etwas gegen die Moscheebrände und andauernde Anti-Islam-Debatte unternimmst oder dich wenigstens gegen sie aussprichst. Natürlich darfst du all die Flüchtlinge, wie zum Beispiel Sinti und Roma, nicht vergessen, die sich hier ein besseres Leben erhoffen und in ihren Heimen angegriffen werden, oder in Stadtteilen des Ruhrgebiets und Berlins ghettoisiert werden.
Aber auch an diejenigen, die derzeit die Moscheen anbrennen, habe ich eine Nachricht. Jeder Muslim, der aus antimuslimischen Motiven diskriminiert wird, ist ein Christ, der aus antichristlichen Motiven diskriminiert wird oder ein Jude, der aus antisemitischen Motiven diskriminiert wird.
Das ist dasselbe falsche Prinzip, nur die Rollen sind anders. Du tust den jüdischen Opfern im zweiten Weltkrieg keinen Gefallen, indem du der Tradition ihrer Unterdrücker folgst und heute nach der selben Manier gegen Muslime vorgehst. Jemand, der das Gotteshaus einer Konfession angreift, richtet seinen Angriff auf jeden einzelnen Anhänger der Konfession – entweder er weiß es, was ihn noch mehr böse macht, oder er weiß es nicht, was Fahrlässigkeit und Dummheit voraussetzt. In beiden Fällen keine tollen Attribute, die an dir behaftet sind. Für solche Übeltäter herrscht aber dennoch ein Unterschied zwischen Angriffen auf den Islam und auf anderen Religionen. Menschen wie Henryk M. Broder legitimieren ihre verallgemeinernden Angriffe auf den Islam damit, dass die Religion selbst böse sei.
Im Übrigen haben auch die Nazis damals versucht, ihren Judenhass zu legitimieren, indem sie zum Beispiel gerne behaupteten, dass die Juden sie marktwirtschaftlich drangsalieren würden oder ähnliche Dinge. Wer alle Muslime attackiert, nur um die „Schuldigen“ unter ihnen zu erreichen, radikalisiert die „Unschuldigen“ unter ihnen. Oder sind sie alle schuldig in euren Augen?
Davon abgesehen wissen wir spätestens seit dem zweiten Weltkrieg, wie faschistisch die Methode ist, Gotteshäuser anzuzünden. Das wäre für einen angeblichen Antifaschisten sehr widersprüchlich, was mich also eher davon ausgehen lässt, dass du ganz einfach jemand bist, der sich im Rahmen der aktuellen Gräueltaten irgendwelcher sich als muslimisch bezeichnenden Extremisten im Irak und Syrien angeekelt fühlst: Wieso beantwortest du Gräueltaten und Ungerechtigkeit mit Gräueltaten und Ungerechtigkeit? Dass vor allem Muslime diesen Extremisten zum Opfer fallen, ist doch eher eine Gemeinsamkeit, die du mit diesen Extremisten teilst, die du ja ursprünglich bekämpfen wolltest. Also aus vielerlei Gründen widersprüchlich. Eine Endlosschleife.
Jetzt kommt kein „oder du bist ein Nazi…“, weil das genau der Fehler ist, der den oben genannten Möglichkeiten erlaubt, nicht als Nazis davon zu kommen. Also ist die dritte Option die bekannteste Art von Nazis. Die Neonazis. Sein Handeln ist ein Verzweiflungsakt, denn er selbst weiß, dass das, was er versucht zu bekämpfen, sich vermehren wird – egal, was er unternimmt. Es wird mehr Moscheen geben, es wird mehr Dönerläden geben und die arabische und türkische Kultur wird sich wohl noch mehr ausbreiten als zuvor, trotz seines bösen Aufwandes in Zeiten des Keupstraßenangriffes oder der NSU-Morde etc..
In einem demokratischen Land sollte ein demographischer Wandel, der nicht auf Vertreibung basiert, akzeptiert werden.
Deutschland, wir alle, müssen den Opfern des zweiten Weltkrieges Respekt zollen, indem wir heute den selben faschistischen Feldzug unterbinden, der sie schon damals ermordete.