Wann und welche Leben sind es wert, betrauert zu werden und welche nicht? Wann nehmen wir nicht nur den Tod eines Menschen wahr, sondern geben dieser Wahrnehmung auch einen ethischen Widerstand, dass es falsch ist, dass genau dieses Leben beendet wurde? Diese Fragen stellte sich auch die amerikanische Philosophin Judith Butler. Mit ihrem Buch „Raster des Krieges – Warum wir nicht jedes Leid beklagen“ betrachtet sie die Mechanismen des Krieges, der die Leben der Menschen in betrauerbar und nicht betrauerbar einteilt. Es geht nicht um das Leben an sich, sondern um das, was dieses Leben lebbar macht; nicht was es erkennbar, sondern was es anerkennbar und somit betrauerbar macht. Ein unbetrauerbares Leben ist ein Leben, um das nicht getrauert werden kann, weil es nie gelebt worden ist, das heißt, weil es überhaupt nie als Leben gezählt hat, so Butler. Es geht darum, wie unser Wertesystem, das Leben von Menschen als schützenswert betrachtet. Damit ich betrauert werden kann, muss ich von der Gesellschaft oder von der Gruppe wertgeschätzt sein, mein Leben mit ihrem verbunden sein. Ist es eine ganze Bevölkerungsgruppe nicht, dann spricht Butler von Prekarität, also „jenen politisch bedingten Zustand, in dem ganz bestimmte Bevölkerungsgruppen aus sozialen und wirtschaftlichen Unterstützungsnetzen herausfallen und dem Risiko der Verletzung, der Gewalt und des Todes ausgesetzt sind.“ (Butler 31-32: 2010, Raster des Krieges)

Es geht um eine gemeinsame soziale Wirklichkeit, mit all ihren Bedeutungen, Werten, Vorstellung von Menschen, die geteilt wird. Daher betrauert man das bzw. den, der der eigenen Wirklichkeit mit all ihren Ansprüchen entsprach. Daher zeigt man mehr Solidarität mit amerikanischen Weißen als mit amerikanischen Muslimen oder Schwarzen, denen in den Kopf geschossen wurde, oder als mit Menschen aus anderen Teilen der Welt, wie dem Nahen Osten, Afrika, oder Flüchtlingen, die im Mittelmeer ertrinken oder in einem Lastwagen tot aufgefunden werden. Dass sie nicht betrauert werden, und es auch nicht wert sind, zeigen natürlich viele Demonstrationen sogenannter Patrioten, aber auch, dass Medien und Politik nie über das wesentliche Problem sprechen, und es mehr um Schlepper geht, um die viel zu vielen Flüchtlinge, um die überbelasteten Kommunen, um ernstzunehmende Sorgen der Bürger. Es geht nicht darum, die Wege nach Europa für die Flüchtlinge zu erleichtern, sondern Zäune aufzubauen und die Flüchtlingszahl zu minieren. Es geht um einen selbst, bevor es um das Leid anderer geht.

Unser Wertesystem betrauert nicht das Leid der Gruppen, die die schwächsten sind, vielmehr werden sie als Gefahr betrachtet und sind damit der Gefahr, und auch die des Todes, ausgesetzt. Daher gehen auch jegliche Appelle an die Empathie und das Gewissen der Leute ins Leere. Aufrufe, dass es hier doch um Menschen geht, die vor Angst und Leid fliehen, dass sie sich doch mal in sie hinein versetzen sollen, etc., prallen an ihnen ab. Man argumentiert mit einem Leid von einem Menschenleben, das für sie nie von Bedeutung war, gegen ein Leben, und zwar ihres, das über alle Bedeutungen steht.

Wir sollten daher unser Wertesystem ändern, wir sollten mehr Begegnungen schaffen, die unser Handeln in die bessere Richtung lenken, und damit bessert sich auch unsere Kultur. Denn nur so kann man gegen die Ignoranz vorgehen. Worte der Verachtung und der Ermahnung verstärken nur den Widerwillen und Starrheit dieser Patrioten. Aber Taten der Wohltätigkeit gegenüber Flüchtlingen stecken zu weiterem Guten an. Und es ist erstaunlich und so ein schönes Bild von Menschlichkeit, wie selbstlos und bereit Menschen den geflüchteten Menschen helfen, und damit die Liebe in sich aufleben lassen. Und es ist so erstaunlich und so ein hässliches Bild von Menschen, die geflüchteten Menschen, mit Hass, Gewalt und Ignoranz begegnen. Aber wer wird am Ende der Verlierer sein? Der hassende oder der liebende Mensch?

Kürzlich ist ein Bild von einem toten Flüchtlingskind an einem türkischen Strand um die ganze Welt gegangen, und hat die Herzen all jener bewegt, die so viel Menschlichkeit in sich tragen, dass sie es betrauert haben. Ein Kind, das so voller Reinheit ist und die reinen Menschen bewegt. Was daran noch so traurig ist, ist, dass erst dieses Kind sterben musste, um den Ernst der Lage zu erkennen, um die Herzen der Menschen zu bewegen. Dass die Politik dies immer noch nicht erkennt, darf uns nicht aufhalten, tätig zu werden. Wenn wir das Versagen der Politik als Maß für unser Urteil und Tat nehmen, dann werden noch viele Kinder ertrinken, viele Flüchtlinge bedroht, und weiter viel Hass verbreitet.

Die höchste Aufgabe des Menschen ist zu wissen, was einer sein muß, um ein Mensch zu sein.“ – Immanuel Kant