Es ist schon nach Mitternacht. Das Licht ist gedämmt. Der Regen klopft unregelmäßig an das
Fenster. Ohne Takt, ohne jegliches Gefühl. Er prasselt einfach nieder. So wie meine Gedanken.
Ich überlege nicht lange, wie ich meine Wörter arrangieren soll. Geschweige ihnen eine Struktur zu
geben. Ich muss mich erinnern an damals. Und damals ist schon fünf Jahre alt. Der Geschichtsunterricht.
Der Holocaust. Shoa, das sei gleichbedeutend. Goldhagen. Die These von Goldhagen.
Wäre damals das deutsche Volk schützend eingegriffen, denn sie wüssten schließlich Bescheid,
dann wäre es nicht dazu gekommen. Hitzige Diskussionen. Das deutsche Volk sei also schuld daran.
An dem Denkmal der Schande, so wie es aus den Eingeweiden vom Höcke quoll.
Unglaublich. Alles, was derweil passiert, ist unglaublich. Sie lasen Schiller, Goethe und Winckelmann,
während über ihren Köpfen die schwarzen Wolken des Todes zogen. Auschwitz. Mir wird kalt.
Der Tee ist ausgetrunken. Meine Heizung funktioniert nicht. Alles schläft. Der Drang zu schreiben,
der ist noch wach. Geschichte wird nicht alt. Nur die Erinnerungen verfallen. Oder die Moral.
Das Gewissen. Geschichte ist ein Lehrer. Oft schwänzen die Schüler. Amerika. Ich denke an Amerika.
An die Menschen vor dem Flughafen. An den Enthusiasmus. It’s unbelievable. Fantastic. Great people.
Ich versuche seine Stimme zu unterdrücken. Was dort passiert, das ist Geschichte.
Das ist Widerstand wie aus einem Bilderbuch. Bunt. Vielfältig. Stark. Diversion is our strength.
Dieser weiche Blick. Dieser Kanadier. Er hat schon was von Hercules. Wie schön es klingt, wenn das
Herz die Zunge dirigiert. Seine Worte sind wunderbar. Refugees welcome. This is what democracy
looks like. This is what democracy looks like. Die Stimmen der Protestierenden schallen wie eine
treibende Hintergrundmusik, während ich diese Zeilen verfasse. Resist. Resist. Resist.
Alternative Fakten ist bereits das Wort des Jahres. Zumindest für mich. War sicher fester Bestandteil
in Höckes Geschichtsunterricht. Der musste jetzt sein. Widerstand von überall. Unermüdlich.
Anhaltend. Nichts scheint mehr unmöglich zu sein. Ob die braune Welle es in Deutschland wohl
auch auf den Leuchtturm schafft? In Amazon sind gerade die Tagebücher reduziert. Es hat aufgehört
zu regnen. Ich blicke hoch in die dunkle Nacht. Der Mond ist nicht da. Ein schlechtes Omen.
Das dachte ich zumindest als Kind. Vor dem Fenster stehend. Jede Nacht. Ein festes Ritual.
Mir fehlt der Mond. Mir fehlt die Poesie. Mein Schmierpapier liegt wartend auf der Fensterbank.
Ich zögere nicht lange und fange an zu schreiben:
–
Wohin soll das noch alles führen,
wenn nicht bloß zurück zum Alten.
Weit offen stehen doch alle Türen,
unbändig und frei sind die Gedanken.
Denken nicht mit Fühlen vertauschen,
das vermied seit jeher viel Leid und Unglück.
Wofür ist denn Hass zu gebrauchen,
so zieht’s die Welt nur wie eine Ebbe zurück.
Gespalten wie nie zuvor,
und vereint wie noch nie.
Es knistert im Ohr:
Welch schöne Paradoxie!
Der Bleistift fällt. Meine Augen auch.